Der Geruch der Armut
Es ist dieser leicht süßliche, stechende Geruch. Da muß er durch, schließlich will er das Beste, was er hier kriegen kann: hochwertige Lebensmittel. Er wird nichts dafür bezahlen, keinen Cent, aber diesen Geruch riechen zu müssen, das ist halt der Preis. Doch das macht Didi, wie ihn manche hier freundschaftlich nennen, längst nichts mehr aus. Er hat sich daran gewöhnt.
Dieter Freitags Weg führt an riesigen Müllcontainern vorbei, schließlich ist ihr Platz immer auf der Gebäuderückseite der Lebensmittelmärkte. Hier wird tonnenweise auf Paletten angeliefert, was Stunden später vorne im Laden frisch in den Regalen präsentiert wird. Doch nicht alles kann verkauft werden: An jedem Tag wird ein Teil der Lebensmittel als unverkäuflich aussortiert und in die Nähe des Hinterausgangs gebracht, bloß weil das Mindesthaltbarkeitsdatum auf den Packungen bald erreicht sein wird. “Die Leute kaufen das Zeug dann einfach nicht mehr, obwohl es noch einwandfrei ist!”
Als Mitarbeiter der FRANKFURTER TAFEL e.V. ist er den Angestellten im Lebensmittelmarkt kein Unbekannter. Schließlich sammelt und verteilt er seit Jahren für die Hilfsorganisation genau diese Nahrungsmittel, die sonst im Müll landen und vernichtet werden. Und bringt sie ohne Zwischenlagerung direkt weiter, hin zu den fünf Lebensmittelausgabestellen in Frankfurt, Offenbach und Friedrichsdorf oder zu anderen Organisationen, die dreißig Essenausgabestellen in Frankfurt betreiben.
Auch an diesem Samstag um 10.40 Uhr steht Dieter Freitags Kühl-Lieferwagen an der Rampe. Das Fahrzeug trägt die Beschriftung “Essen für Wohnsitzlose und Arme”. “Das müsste eigentlich anders heißen: Essen für Bedürftige. Die Wohnsitzlosen machen bei uns nur noch 5% aus. Das meiste geht an Hartz-IV-Empfänger, Rentner, Arbeitslose und kinderreiche Familien.”
“Schau hier, diese zwölf Paprika sind noch gut, die nehmen wir. Die wurden nur weggeschmissen, weil das Verpackungsnetz gerissen war. Das Gleiche mit den Tomaten da. Die drei Bananenkisten nehm ich auch, okay, aber die da nicht. Die sind zu zerdrückt. Und Fisch grundsätzlich nicht. Ist zu empfindlich.”
Die Kisten sind richtig schwer; es sind auch Fleischwaren und Fertiggerichte dabei. Einzeln mit der Hand werden sie an die Rampe gebracht, es ist richtige Knochenarbeit. Dieter Freitag macht das alleine; von den Märkten hilft niemand. Nach zwanzig Minuten ist alles drin. Was er nicht braucht, stellt er ordentlich zurück: “Schließlich ist hier kein Wühltisch; wir wollen wiederkommen dürfen.”
Zeit für eine Pause. In der Hagenstraße im Frankfurter Ostend ist es jetzt kurz nach zwölf: Essensausgabe in zwei Räumen bei der CARITAS-Station. Überwiegend Männer sitzen hier, nehmen meist schweigend ein Mittagessen ein, frisch zubreitet in der Küche nebenan. Dieter Freitag hat bereits drei Lebensmittelmärkte und eine Bäckerei besucht. “Hallo Didi, was hast Du heute für uns? Alles klar?” Ein kurzer Wortwechsel, Zeit für eine Tasse Kaffee und eine Zigarette. Der übliche Andrang: So um die 80 bis 120 Essen werden hier täglich ausgegeben. Hier ist die Frankfurter Tafel nur Zulieferer. Das meiste für die Küche wird eingekauft.
Auf dem Tourenplan stehen noch ein weiterer Discounter und zwei Bäckereien, Familienbetriebe. Hier wird erst der Geschäftsschluß um 13 Uhr abgewartet. Die Ladefläche ist längst vollgestapelt mit Körben voller Frischobst, Milchprodukten, Aufschnitt, Schinken, Kartoffeln und Gemüse. Jetzt kommen noch sechs große Tüten hinzu mit frischem Brot, Brötchen und Teilchen. “Das lag eben noch auf dem Tresen. Da werden sich die im Frauenhaus aber freuen! Die haben auch Kinder da. Die freuen sich immer über die knusprigen Stückchen!”
Es dauert eine halbe Stunde, dann ist das Frauenhaus im Bad Homburg erreicht. “Warum parkt Ihr denn nicht direkt vor der Tür?” “Weil wir den Verkehr nicht behindern wollen.” ” Warum parkt Ihr denn nicht wenigstens in der Einfahrt gleich nebenan?” “Weil es eine Einfahrt ist.” Es ist offensichtlich, diese Frauen haben Angst. Sie wollen in ihrem Haus beschützt bleiben, sogar den Gang auf die andere Straßenseite meiden. Dieter Freitag bleibt ruhig und lässt die zwei Frauen direkt am Wagen aussuchen, was sie brauchen oder möchten, und trägt noch die Kartoffeln vor die Tür.
“Wenn ich so alles zusammenrechne, dann hat alleine die Ladung hier in diesem Van als Ladenverkaufspreis einen Wert von 1.000 Euro. Und heute, am Samstag, hat die Frankfurter Tafel drei Fahrzeuge im Einsatz.”
Was jetzt noch auf der Ladefläche steht, wird komplett nach Friedrichsdorf gebracht. Dieter schnappt sein Handy: “Hallo, hier ist Dieter. Die Tafel kommt. Macht Euch bereit; ich bin in zehn Minuten da!” Es ist 14.45 Uhr, als der Lieferwagen vor der Doppelgarage einer kleinen Reihenhaussiedlung hält. Sechs Helfer laden aus, bis der Wagen leer ist. “Das alles wird von hier abgeholt; so ungefähr in einer Stunde. Das geht an viele arme Familien. 120 Leute bekommen so etwas zu essen, was sie sich sonst nicht leisten könnten.”
Der Wagen fährt wieder zurück zur FRANKFURTER TAFEL, ins Ostend. Zeit zum Nachdenken. Auf die Frage, was für ihn Luxus bedeute, braucht Dieter Freitag nur kurz zu überlegen: “Luxus? Das bedeutet für mich, Arbeit zu haben. Mir ein Zuhause leisten zu können, einen Computer mit Internetanschluß zu besitzen. Ein Auto fahren zu können.”
Zur Frankfurter Tafel kam er 1997. Da war er 44 Jahre alt. Hatte gerade eine Umschulung im kaufmännischen Bereich hinter sich und trotzdem keine Arbeit gefunden. Der Zufall wollte, dass eine damalige Bekannte bei der Essensausgabe am Avetorhaus in Sachsenhausen arbeitete. Sie gab ihm den Tip, dass eine Frau Schmieder gerade dabei sei, eine Hilfsorganisation zu gründen. Die würde einen zuverlässigen Fahrer für Lebensmitteltransporte suchen, zunächst mal ehrenamtlich. “Das hab ich probiert. Ich bin dabei geblieben. Es ist in Ordnung.” Und wenn das Schicksal es anders gewollt hätte? “Na, vielleicht würde ich bei einer Partei mitarbeiten, im Umweltausschuß. Bestimmt würde ich da mehr verdienen. Da könnte ich mich schon dran gewöhnen. Aber das ist mir letztlich egal.”
Seinen Job bei der FRANKFURTER TAFEL macht Dieter Freitag aus Überzeugung. 40 Stunden in der Woche laut Vertrag, also 160 Stunden im Monat. Im Januar hat er 83 Überstunden drangehängt, im Februar 65 Stunden. Unbezahlt und ehrenamtlich. Seit dem Tod von Frau Schmieder vor einigen Jahren hat Dieter Freitag einen großen Teil der Büroarbeit zusätzlich übernommen. Wahrscheinlich verbringt er am nächsten Samstag ein paar Stunden im Büro auf der Hanauer Landstraße: “Da kann ich Papierkram am Schreibtisch erledigen, der liegen geblieben sind. Das ist inzwischen Gewohnheitssache.”
Gibt es denn etwas, woran sich Dieter Freitag nie gewöhnen wird? “Ja. An Unmenschlichkeit werde ich mich nie gewöhnen. Ein Bild geht mir nicht mehr aus dem Kopf, als ich vor ein paar Jahren im Auto saß und Zeuge wurde, wie ein offensichtlich Wohnsitzloser erst in zwei Gaststätten und dann in einen Laden ging und jeweils Sekunden später wieder herauskam. Und wie der sich dann draussen an einem Verteilerkasten hinhockte und seine Notdurft verrichtete, weil ihm zuvor die Toiletten verweigert wurden. Bei so was packt mich die Wut.”
Am Montag wird er wieder im Büro sein, mit Firmen herumtelefonieren, den Bedarf bei den Lebensmittelausgaben abfragen, ehrenamtliche Mitarbeiter organisieren und, wenn Not am Mann ist, bei einer Tour einspringen, die ihn wieder zu diesem süßlich stechenden Geruch führt. Ob ihm das nicht stinkt? Dieter Freitag blickt nur kurz auf: “Armut hat keinen Geruch.”
(Wettbewerbsbeitrag zu “Die Soziale Reportage 2006″ der AOK HESSEN und der FRANKFURTER RUNDSCHAU. Autor: Jim Brutto.)