default_mobilelogo

Nachruf auf den Nachbarn

Unser alter Nachbar ist einfach nicht mehr da.

Einer unserer Nachbarn "walked out into yesterday". Ein bescheidener alter Mann, immer rastlos, hielt sich nie länger als 5 Minuten auf der Straße bei einem Gespräch auf. "Ich muss weiter." Aber wohin? Und wieso "muss"? Er war Rentner, alleinstehend, hatte immer eine leicht gebückte Haltung und humpelte ein wenig. War immer wortkarg, streichelte intensiv unseren Hund und freute sich über seine Reaktion. Die beiden mochten sich. Dabei war er glücklich, Dann zog es ihn weiter um das Haus, um den Gebäudekomplex hier.

Ungefähr seit Anfang November sahen wir ihn nicht mehr. Ob er wohl verzogen ist? Ob er krank ist? Ob er verstorben ist?

Es ist wahr, unser Nachbar lebt nicht mehr. Ein heutiger Anruf bei der Hausverwaltung bestätigte das. Der Mann hatte angeblich einen Herzanfall, kollabierte und litt nicht länger als zwei Tage. Dabei rauchte er nie, hatte normales Gewicht. Vor etwa anderthalb Jahren nahm er noch einen Job als Hilfshausmeister an, ging frühmorgens 1 km bis zu einer Siedlung in der Kettelerallee, wo er die Mülltonnen vom Hof an die Straßen rausstellte. Er machte den Job, weil die Rente als etwa 67-Jähriger nicht mehr ausreichte. Schließlich war ja auch die Miete etwas gestiegen nach einer Fassadendämmung. Früher war er selbst jahrelang Hausmeister. Er kümmerte sich um alles, wie er sagte, doch eines Tages hätten sie ihn nicht mehr gebraucht. Er litt sehr darunter, sprach mitunter von 900 unbezahlten Überstunden und Undank. Noch heute bückte er sich nach jedem Papier und Abfall, welchen Passanten auf den Gehweg oder in die Beete rund um die Häuser weggeworfen hatten. Er brachte das immer zu den Mülleimern, ungefragt, ohne Auftrag.

Mitunter sahen wir ihn auch von der anderen Straßenseite. Es war immer dasselbe Bild. Er ging nie weit spazieren. Allerhöchstens mal im Sommer zum Mainufer nahe der EZB. Aber immer rastlos, immer in Eile.

Nun ist Ruhe hier, eine seltsame Ruhe, weil er nicht mehr da ist, der Rastlose. Wir vermissen ihn. Er ging einfach so still, hat sich nicht verabschiedet, wir wußten nichts von seiner Einlieferung ins Krankenhaus. Kein Nachbar hat es uns erzählt, ja vermutlich nicht einmal selbst gewusst.

Es ist so seltsam, wenn man sich erinnert. Tatsächlich, als ich ihn das letzte Mal sah im Oktober 2017, da dachte ich, dass er so sehr müde aussieht. Müde vom Leben. Dass er nichts mehr erwartet. Das machte mich ein wenig traurig; ich empfand Mitleid mit ihm. Armut macht einsam. So ging er wieder ums Haus und schaute mit gesenktem Kopf nach rechts und links auf den Gehweg, winkte nur mal kurz einem Nachbarn zu, ging rastlos weiter. Immer hatte er seine alte Mütze auf. Die passte zu ihm.

Mein Gefühl hat mich nicht betrogen. Das Gefühl, unseren alten Nachbarn als einen vom Leben so müden Menschen zu sehen, hat mich nicht getäuscht. Ich hatte es damals noch meiner Frau erzählt: "Du, ich glaube, der Alte lebt nicht mehr lange!" "Warum?" "Keine Ahnung, ist nur so ein Gefühl." In den kommenden Tagen muss er dann gestorben sein. Vielleicht hat er sich aufgegeben.

So schade, da sieht man einen fast jeden Tag, fast 10 Jahre lang, man kennt sich und bleibt sich doch unbekannt, man begrüßt sich und sagt hallo. So wie immer. Und erst später erfährt man, dass das letztens das letzte Mal war. Warum kommt er jetzt nicht einfach wieder um die Hausecke, so wie früher ? Wir hätten uns doch noch so viel zu erzählen. Ich weiß nicht einmal, wie er hieß, und doch war er wie ein vertrauter Freund.